Hans Kox: Dorian Gray (1974) - Part III (DE)
1977/78 Dorian Gray in Reprise
Nachdem sich Kox beim Concertgebouw zurückgezogen hatte, reiste er wegen Depressionserscheinungen und auf der Suche nach sich selbst, für einige Wochen nach Portugal. Er verschwand danach schnell von der Bildfläche. Wie erwartet, marginalisierte sich sein Status als Komponist: weniger Aufträge, weniger bedeutende Uraufführungen.
Eins der Dinge, die Kox im Hinblick auf die unerwartete Wiederaufführung der Oper am 21. Januar 1977 in diesen Jahren jedenfalls wohl tat, ist die Umarbeitung der Dorian Gray Partitur für Tenor, diesmal in der Stadschouwburg in Amsterdam. Der Intendant Hans de Roo ließ sich nämlich von zwei kleinen quengeligen Rezensenten von De Volkskrant und NRC nicht kujonieren, und kam kräftig für Kox' Oper auf. Kox begann übrigens mit den Rezensionen sofort nach seiner Rückkehr aus Portugal.
Wenn wir heute die Dorian Gray beurteilen, so handelt es sich faktisch nur um diese Revision. Der wesentliche Unterschied zur Urversion ist, dass Kox die Titelrolle für Tenor umarbeitete. Obgleich sich inhaltlich viel für seine ursprüngliche Idee sagen lässt, um nämlich Gray mit den unirdischen Klängen des Countertenors zu färben, ist seine Wahl hinsichtlich der traumatischen Welturaufführung mit dem indisponierten Knutsen hinterher gesehen verständlich.
Merkwürdigerweise hat die Zeit Kox in diesem Punkt im Nachhinein recht gegeben, denn im Rahmen des Barockrevivals sind gerade Countertenöre als Ersatzsänger der ehemaligen Kastraten rasend populär geworden. Als ich die CD-Aufnahme (der dritten Reprise in Jahre 1982) hörte, beschlich mich wiederholt das Gefühl, dass ein Philippe Jaroussky als Dorian Gray genau diejenige Dimension hinzufügen würde, die Kox vorgeschwebt hat. Neben den Dorian Gray von Philip Langridge trat die junge Sopranistin Roberta Alexander als Sybil Vane an. Lieuwe Visser, Jan Blinkhof und Inge Fröhlich wiederholten ihre Rollen von Basil Hallward James Vane, Lady Victoria und Lord Henry. Joep Bröcheler, Thea van der Putten und Elise Galena waren neu als Sir Thomas, Lady Gladys und Lady Agatha. Visser ersetzte zum zweitenmal den ursprünglich vorgesehenen Hallward, Tom Lawland, der hier mit Grippe ausfiel.
Neue Runde, neue Chancen
Für die Reprise hatte De Roo mehr gute Nachrichten, denn nach anfänglichen Streitigkeiten durfe Kox diesmal wohl selbst dirigieren. Diese Reprise war damit fast eine triumphale Rückkehr in die Höhle des Löwen, konnte aber die bitttere Pille von dem, was Kox bis auf den heutigen Tag das Katastrophenjahr nennt, nicht versüßen. Um so mehr, da die Rezensionen wiedermal keine große Begeisterung zeigten. Heg und Reichenfeld sandten Kollegen. Die waren weniger explizit in ihren Verurteilungen, kamen aber nicht weiter, als dass es wenigsagende Musik sei. Und wieder ist Reichenfelds Reaktion nicht bekannt, Heg aber bot die Reprise eine willkommene Entschuldigung. Sein späteres Kommentar lautete dahin, dass die bearbeitete Version die schlimmsten Fehler der Welturaufführung wegnahm, „wenn auch nicht ein Werk von Bedeutung und mit Ewigkeitswert übrig blieb".
Die Uitkrant für Amsterdamer veröffentlichte vor der Reprise am 4. Januar 1977 ein Interview mit folgendem Intro:
„Vielleicht haben Sie in der Saison 1975-1976 eine der wenigen Aufführungen von Hans Kox' erster Oper Dorian Gray durch die Nederlandse Operastichting gesehen. Vielleicht haben Sie eine der völlig negativen Kritiken gelesen, womit diese Oper empfangen wurde. Vielleicht wissen Sie überhaupt nichts. Nun: Dorian Gray ist zurück. Drei Vorstellungen im Januar in der Stadschouwburg. Mit Veränderungen, aber trotzdem Dorian Gray. Grund genug für ein Gespräch mit dem Komponisten.
Wir haben ihm gesagt – und das müssen Sie auch wissen – dass wir damals viel Vergnügen an seiner Dorian Gray erlebt haben. Weil die Oper dramatisch sehr stark aufgebaut war, weil viel fesselnde und gut komponierte Musik darin zu hören war, und weil dies alles trotz der schwächsten und tödlichsten Stelle in der damaligen Aufführung: der schlecht disponierte Countertenor, der die Hauptrolle sang, uns erreichte."
Revisionen
Außer der Umarbeitung der Titelrolle für Tenor, hier vom damals in dieser Rolle bejubelten Philip Langridge dargestellt, sind die wichtigsten Veränderungen in der Reprise einige Umkehrungen in der Szenenfolge im 1.Akt und die hinzugefügten Takte am Schluss der Oper.
Was die Veränderungen betrifft hat Kox die Konfrontation zwischen Gray und Sybil Vane von Szene 3 nach Szene 5 übergebracht. Kox:
'Der erste Akt zählte 3 Szenen: a. Die Bekanntschaft Dorian Grays mit Lord Henry Hamilton – einem Ahn vom Regisseur Charles – und die Konfrontation mit dem Maler Basil Hallward. b. die darauffolgende Fortsetzung: der immer größere Einfluss Lord Henrys und dessen Frau auf Gray als Symbole einer verdorbenen society. Die beiden Szenen hatten Erfolg. Dann aber habe ich einen Denkfehler gemacht: mit der dritten Szene glaubte ich für Entspannung bei den Zuschauern sorgen zu müssen und ich fügte das Treffen Dorian Grays mit Sybil Vane, seiner einzigen wirklichen Liebe, ein. Das verursachte ein Loch: es wár eine starke Szene, an dieser Stelle gelang sie aber nicht. Das habe ich verändert. Die Umarbeitung der Schlussszene der Oper war eine Folge des Umschreibens der Countertenorpartie für Tenor.'
In Uitkrant sagt Kox übrigens, er habe schon von Anfang an die Idee mit sich herumgetragen, Dorian für Tenorstimme zu schreiben. Was ihn im Gespräch mit Uitkrant mehr in Staunen versetzte als die ursprünglichen Reaktionen, ist vor allem die Tatsache, dass Benjamin Britten nie selbst die Bearbeitung des Stoffes erwogen hat: eine so ambivalente Person wie Dorian Gray!
Die Kritiken II
Die Telegraaf nahm deutliche einen Vorschuss auf die völlige Rhabilitierung, die 35 Jahre später folgen sollte. Unter der Schlagzeile „Erneuerte Dorian Gray großer Erfolg für Hans Kox" schrieb Mia Aleven-Vranken:
„Ein schlagender Erfolg für den niederländischen Komponisten Hans Kox: die Reprise seiner ersten Oper ‚Dorian Gray' in veränderter Form bei der Nederlandse Operastichting in der Stadschouwburg in Amsterdam. Wiederholter Beifall bei offener Bühne für den Komponisten-Dirigenten bewiesen, dass die eingreifenden Erneuerungen in der ursprünglichen Präsentation vom März 1974 die bezweckten musikalischen und dramatischen Effekte gebracht haben.
Die wesentlichste Veränderung betrifft die Hauptrolle, die nun nicht mehr von einem Countertenor, sondern vom Tenor Philip Langridge mit seiner prachtvollen hohen lyrischen Stimme als der schöne, grausame und verbrecherische Dorian gesungen wurde: ein Mann in den dekadenten Londoner Societykreisen des 19.Jahrhunderts, der die ewige Jugend besitzt und seinen moralischen Verfall nur auf seinem gemalten Porträt abgebildet sieht.
Kox [...] hat in der Partitur das Nötige gestrichen bzw. verändert, so dass die musikalische Aussagekraft und die dramatische Spannung viel direkter ankommen. Im Orchester sind vor allem die psychologischen Verwicklungen mit originellen Einfällen i.b.a. die Instrumentierung, die exotischen Klangfarben und die Anwendung von Leitmotiven vertont worden. Die gesungenen Partien gehen aber manchmal in gesprochene Dialoge über, was bei einem Höhepunkt wie dem Mord am Kunstmaler Basil Hallward als ein musukalischer Mangel empfunden wird. Zur halluzinierenden Wirkung tragen die Regie von Charles Hamilton und die Enszenierung von Erich Kondrak, wie in den Projizierungen von Dorians Zerknirschungsvisionen bei Kox' elektronischer Entreaktmusik und den ebenfalls projizierten Veränderungen im Porträt, in nicht geringem Maße bei.
Eine großartige Leistung lieferte Lieuwe Visser, der in weniger als drei Tagen für den kranken Thomas Lawler in seiner früheren Rolle des Malers Basil einsprang. Timothy Nolen war wieder ein unwiderstehlicher Lord Henry, Roberta Alexander sang mit ergreifender Klarheit die Schauspielerin Sybil Vane, während kleinere Rollen von Inge Fröhlich, Elise Galama, Anke Brokstra, Thea van der Putten, Joop Bröcheler und Jan Blinkhof, sowie von einer Gruppe Mimespielern gut vorgetragen wurden. Kox inspirierte das Radio Kamer Orkest zu einer interessanten Begleitung. Nächste Vorstellung in Amsterdam am 26. und 30. Januar und Rotterdam (am 28.Januar)."
Schön. Was aber schrieben Volkskrant und NRC über die Reprisen? Reichenfeld und Heg ordneten Kollegen ab, die natürlich um die Polemik wussten. Schmähschriften wie damals waren sowieso beim offenkundigen Beifall des Publikums für die umgearbeitete Dorian Gray kaum möglich.. Überdies hat die Avantgardebewegung ihr Sprechrohr endgültig verloren. Peter Schat ist in Hegs Jargon dann nämlich schon mehr oder weniger „übergelaufen". Zuerst die NRC:
"Als Unterhaltungsstück ist Dorian Gray ein Erfolg, und weil keiner ins Theater geht, um sich langweilen zu lassen, genügt das Werk damit einer der Mindestforderungen des Theaters. Als Musikdrama, als Oper also, halte ich das Werk für misslungen[...] Dass Kox ein in der Tradition orientiertes musikalisches Idiom handhabt, ist unerheblich, dass er fachmännisch und wirkungsvoll instrumentiert, ist keinem Zweifel unterworfen; dass er aber in diesem ansprechenden Idiom und mit seinem fachmännischen Können keine musikalische Profilierung seines Charakters zu geben versteht, finde ich den essentiellen Mangel seiner Partitur."
Hans Tecker, NRC
Sodann De Volkskrant
„Das träge Tempo, worin sich die Oper entwickelt, ist für viele vielleicht langweilig, auch das ist aber dem Fin-de-siècle inhärent. Dass Kox manchmal doch zu oft in Schablonen verfällt, um gewisse Teile anzufüllen und Lücken abzudichten ist die Schwäche der Oper. Mit Namen da, wo der Text endet, in den Zwischenspielen des Orchesters, finden sich ziemlich viele tote Stellen. Auch die banal komponierte Klage der Sybil Vane „Let me be happy" kommt mir immer noch in die falsche Kehle."
Charles Fabius, De Volkskrant
Der Komponist, der aufgrund seiner natürlichen Veranlagung dazu neigt, das Negative zu vergrößern, fühlt sich trotz der klaren Unterstützung in de Telegtraaf vor allem durch die Kritik Elmer Schönbergers erneut heruntergemacht:
"Kox' Opernmusik gleicht noch am meisten einem aus verwechselbaren Elementen zusammengefügten Wohnzimmersitzplatz in zweidimensionaler, für den praktischen Gebrauch völlig ungeeigneter Ausführung, oder einer Meccanokiste, denn wie verrückt man auch bastelt, es passt immer [...] aus dem Nichts hervorkommende und zu nichts führende holprige Harmonien, Melodien mit einem nur in Mikrovolt messbaren Spannungsverlauf. Alles gekleidet in einen Poncho aus gummiartigen Orchesterklängen, Schumann in einer trüben Marschlandschaft."
Zum Schluss freut er sich noch kurz heimlich über Kox' Paranoia i.b.a. den großen Komplott, der es auf seinen Untergang abgesehen hätte. Schönberger räumt zwar ein, dass in Wahrheit vielleicht der eine oder der andere politischen Gewinn daraus gezogen haben wird, behauptet aber, dass das wirkliche Übel Kox' Musik selbst ist.
Der Unterzeichnete muss beim Lesen derartiger Kritiken gestehen, dass er vor allem nach Kox und dessen Musik neugierig geworden ist: Was muss ein Mensch getan haben, um so viel öffentlich geäußerten Hass hervorrufen zu können? Kox versank zum zweitenmal in eine Depression, und bis 1981 wurde eigentlich kaum noch etwas von ihm gehört.
1982 Dorian Gray III
Wer in den ermutigenden Kritiken und der widerwilligen Feststellung in Volkskrant und NRC liest, dass die Dorian Gray wie denn auch ein eklatanter „öffentlicher" Erfolg war, wundert sich letztendlich weniger über die Tatsache, dass De Roo das Werk 1982 ein drittes Mal auf die Bühne brachte. Die allerletzte Auffürung in der Stadschouwburg in Amsterdam vom 6. Dezember 1982 wurde in letzter Minute überdies afgenommen, und es ist diese Bandaufnahme, die die Basis der Attica-Ausgabe im Oktober 2012 war. Kox zeigt sich erfreut mit den Aufführungen:
"Nach dem Schluss - das ist auf dem Band hörbar - erklang ein Applaus nach dem anderen. Danach ist das Werk trotz aller Versuche in England nie mehr aufgeführt worden. In Amerika wollte man wohl, aber nur wenn ich 20.000 Dollar mitbrächte. So viel Geld hatte ich aber nicht."
Eine Kox Renaissance
Rezensionen vom dritten Zyklus besitze ich nicht, mit der Attca-CD in der Hand kann jedermann aber selbst über die Dorian Gray urteilen. Bevor es so weit ist, muss aber noch ein letztes Intermezzo in diesen Essay eingebracht werden. Mit der Arbeit an der dritten Reprise der Dorian Gray scheint Kox einigermaßen auf den altvertrauten Weg manchmal leicht megalomaner Projekte und neuer Zusammenstöße mit dem Musikleben um ihn herum zurückgekehrt zu sein, denn irgendwann im Jahre 1981 machte er den Anfang mit dem Entwurf seiner zweiten großen Oper, Das grüne Gesicht. 1984 beendet er die Anne Frank Cantate, 1989 das Oratorium Sjoa. Seine 'disproportionellen' Bemühungen mit dem Holocaust besorgen ihm wieder einmal scharfe Kritik, die Werke finden aber wohl ihren Weg zum Publikum. Vor allem die Anne Frank Cantate (mit 'Basil Hallward' Lieuwe Visser als Hitler) bildet die Basis für die Hans Kox Renaissane, die Mitte der achtziger Jahre entsteht und in den neunziger Jahren zur vollen Blüte kommt. Kox findet neben neuen Konflikten, unter anderem im Utrechter Konservatorium, wo er Kompositionsdozent ist, auch Mitstreiter in den Medien und in der Musikzunft, darunter David Porcelijn und die Stichting Donemus. Nur die Opern kommen nicht gut vom Fleck....
Leider trat De Roo mit der Eröffnung des Musiktheaters im Jahre 1986 zugunsten des ehemaligen Nussknackers Jan van Vlijmen zurück. Nach seinem tumultuarischen Abschied dort leitete er in den neunziger Jahren das Holland Festival. Damit war die für das Jahr 1991 geplante Ausführung der Oper Das grüne Gesicht verpasst. Van Vlijmens Nachfolger Pierre Audi zeigte während seines gut zwanzig Jahre dauernden Mandats bis zur Saison 2011/2012 ebenfalls wenig Interesse dafür. Seinen fast jährlichen Kompositionsauftrag vergab er lieber der jungen Generation; an sich natürlich preisenswert. Mit allen Einwänden, die implizite mit einer solchen Unternehmung verbunden sind, können niederländische Opernkomponisten sich über die Betriebsführung von DNO nicht wirkliche beklagen. Dass Kox' Oper während der ganzen neunziger Jahren nicht in Frage kam, ist dennoch bedauerlich – wird fortgesetzt.
2004
Rochester's second Bottle
2004 fand in Birmingham die Uraufführung von Kox' dritter Oper statt, er hatte aber trotz aller glücklichen Erfolge seiner früheren Opern in den vergangenen Jahren wenig Glück. Die Aufführung überstieg nach Kox' Ehefrau Hélène (Kox wohnte der Uraufführung nicht bei) das Niveau der Vorstellung einer Schule im fortgesetzten Unterricht nicht. Das Orchester war dezimiert, und die Sänger waren einige Absolventen und Anfänger. Wieder mal Pech mit einer Oper. Kox arbeitete seitdem an Revisionen, eine Aufführung steht noch nicht bevor. Mehr über Rochester's second Botlle finden Sie hier.
2005 • Hoog Spel
2005 kam zur Gelegenheit von Kox' 75stem Geburtstag die hier schon oft zitierte Biographie „Hoog Spel" heraus. Im Auftrag, und deshalb also nicht ganz unabhängig. Van Putten gehört auch zum Koxlager, und zwar in dem Sinne, dass er ein eifriger Berfürworter von dessen bester Musik ist. Ich hatte aber beim Lesen von „Hoog Spel" nicht das Gefühl, dass er bei Kox am Gängelband gehe. Kox' weniger positive Seiten, seine Ehrsucht, seine Grillenhaftigkeit, sein manchmal leicht arrogantes Auftreten und seine verborgenen Grundsätze, wie die bei seinem Zurücktreten vom Concertgebouw, werden alle besprochen. Kox liebte es, sein Leid in breiten Strichen zu malen, erkennt Van Putten. Heg und andere Kritikastern wird viel Platz eingeräumt, ihre Meinungen werden ungekürzt wiedergegeben und zwar im Moment, als so gut wie niemand ein vernünftiges Wort über die Affäre sagen konnte, weil im jahre 2005 noch keine veröffentlichte Aufnahme der Dorian Gray zur Verfügung stand.
Unter dem Titel „Über eine Oper kan man stolpern" schreibt Roland de Beer in De Volkskrant folgende Rezension über die Biographie:
„Eine Oper, darüber kann man stolpern – haben auch Konrad Boehmer (Dr.Faust), Hans Henkemans (Winter Cruise) und Ton de Kruyf (Spinoza) erfahren. Van Putten, der in Kox einen der größten Nachkriegskomponisten sieht, und sich nicht genug über die rigorose „Abweisung", wundern kann, die das „enorme Oeuvre" des anfänglich so erfolgreichen Kox nach der Dorian Gray zum Opfer gefallen ist, ist dessenungeachtet nach der Lösung einer übergroßen Angelegenheit auf die Suche gegangen: steckte vielleicht ein musikpolitisches Motiv dahinter, sollte Kox den Weg zum Concertgebouw abgeschnitten werden; waren seine konservativen Ansichten eine Bedrohung für die Entwicklung eines progressievn Musikklimas?
Van Putten hat über Kox' „Toderklärung" (ein Wort von Konrad Boehmer) nicht nur mit Kox selbst gesprochen, sondern auch mit Koxfreunden, Nichtfreunden (Reinbert de Leeuw, Ton Hartsuiker), Koxschülern (Ed de Boer, Willem Jeths), Koxadepten (Theo Muller, Leo Samama) und Koxdarstellern. Und mit Heg, de nicht versäumte, die Kernfrage zu stellen: ' Könnte es nicht so ein, dass Kox 1974 einfach eine weniger gelungene Oper abgeliefert hat?
Was Van Putten schließlich selbst folgert – diese Antwort musss er schuldig bleiben. Einerseits fällt er mit der Schwalbe eines 'geschändeten' Künstlers mit, dessen einziger Ausweg es war (so urteilte er selbst), in den Boden zu sinken. An anderer Stelle nimmt der Erzähler Distanz, und analysiert er Kox' Neigung, sich abzusondern und dessen Unvermögen, künstlerische Absichten zu erörtern, oder sich in der Wahl der Bibel- und Hitlertexten, in Kriegsgedenkstücken wie Sjoa und der Anne Frank Cantate Beschränkungen aufzuerlegen. Sogar an ' weniger eindringlichen Szenen' in der Dorian Gray ( 'eine schlechte Oper? Im Gegenteil!') hat Van Putten etwas auszusetzten.'
Roland de Beer, 2 juni 2005, De Volkskrant
Man spurt in De Beers Zeilen den verteidigenden Ton. Vor allem wäscht er die Straße seiner Zeitung sauber, so scheint es jedenfalls. Es macht das geschickt, indem er Van Putten den Ball in leicht säuerlichem Ton zurückwirft. Das dicke Ende kommt nach:
"Die von Van Putten befürwortete Reintegration von Kox wird u.a. durch eine Attica-CD mit rezenten Aufnahmen von The Silent Cry (vom Jahre 2001) und Kammermusik aus den neunziger Jahren markiert. Wie die Zyklophonie XIV, worin eine Geige und eine Harfe hören lassen, wie meisterhaft Kox komponieren kann – wenn er kein Bedürfnis nach großen Besetzungen und nach 'Drama' hat".
Beim Lesen von De Beers Schlussnotiz dachte ich spontan, dass es schön ist, dass gedruckte Medien im Zeitalter des Internets marginalisiert worden sind. Van Putten bewundert Kox' Kunst des Komponierens, lässt das Für und Wider zu Wort kommen. Er selbst hält scheinbar nichts von der breiten Komplotttheorie. Auch Unterzeichneter glaubt nicht daran. Kox selbst spricht über diese Komplotttheorie eigentlich schon längst lieber nicht mehr. "Das ist alles schon so lange her, ich habe das schon längst hinter mir gelassen." Verständlich. Könnte es aber, davon abgesehen, nicht einfach so sein, das... Heg und Reichenfeld sich geirrt haben?
Für eine fesselnde Zusammenfassung der Beziehung der Volkskrant mit Kox und der Dorian Gray brauchen wir nicht mehr zu lesen als De Beers kurze Schlagzeile, denn in der Tat: über eine Oper kann man stolpern...
2012
2012 ist für Hans Kox in mancherlei Hinsicht ein besonderes Jahr. Seine vierte Oper, der Einakter Lalage's Monologues, nach einem Text von Edgar Allan Poe, erlebt am 31. März seine Uraufführung im Museum Cruquius in Haarlemmermeer. Es ist eine bescheidene konzertante Aufführung. Kox zeigt sich aber mit der sehr jungen Sopranistin Gulnara Shafigullina, einer Entdeckung von ihm selbst, sehr eingenommen. Es hätte der Auftakt zu etwas viel Größerem werden sollen, nämlich zur Weltaufführung der Oper Das grüne Gesicht, womit 2012 natürlich das erfolgreichste Koxjahr geworden wäre. Die Uraufführung war für den Sommer im Holland Festval mit dem Haager Residentieorkest geplant. Zu Proben kam es aber nicht, weil das Residentieorkest in letzter Minute wegen eines vorteilhafteren Nebenverdienstes in New York absagte. Dies, nachdem mit dem Vorsingen schon ein Anfang gemacht worden war! Es zeigte sich, dass das Holland Festival versäumt hatte, für verpflichtende Kontrakte zu sorgen. Ein besonderer Zusammenlauf mehrerer Umstände, aber wieder einer, dem eine Koxoper zum Opfer fiel. Es gab jedoch ein Trostpflaster, denn das kleine aber unerschrockene Atticalabel brachte wie ein Donnerschlag bei klarem Himmel eine Aufnahme der letzten Aufführung der Dorian Gray in der Amstserdamer Stadschouwburg vom 6. Dezember 1982 heraus.
Dorian Gray auf CD
Plötzlich war dieser mythische Titel scheinbar aus dem Nichts in einer schönen, fast luxuriösen Ausgabe mit dem Libretto in Faksimileschrift und überdies im Vergleich zu dem ursprünglichen Band, das wir hier früher durch Zufall in unseren Besitz bekommen hatten, auch noch in einer prachtvollen remastering, vorhanden.
Mittlerweil ist die ältere Garde in den Ruhestand getreten, und ist eine neue Generation Rezensenten aufgestanden. Sogar Frits van de Waa erkennt in seiner ambivalenten CD-Rezension in de Volkkrant vom 12. Dezember 2012 offenherzig:
'Für Zuhörer vom Jahre 1974 war sie scheinbar nicht modern genug. Wenn man aber weiß, was in den späteren Jahrzehnten folgte, eine Rückkehr zur Zugänglichkeit und Verständlichkeit – kann man genausogut aufrechterhalten, dass er seine Zeit voraus war'.
Ich würde es als Rezensent von 104NederlandseOperas.nl, Luister und Villa d'Arte wagen, das noch einen kleinen Schritt weiterzuführen. 'Dorian Gray' klingt beim Wiederhören hier und da moderner als Otto Kettings auch schon unterschätztes 'Itaka' vom Jahre 1986. Die elektronische 'Bookscene' aus Dorian Gray und viele andere Klangfelder im Orchester und Funde klingen viel moderner als man glauben würde bei der Reihe von 'Einflüssen', die immer zwischen Puccini, Schostakowitsch und Britten gennant wird. Kox kannte Schönberg, Webern und was danach aus Darmstadt und Umgebung kam, bestimmt wohl. Er wies den Serialismus ab, hatte aber ein offenes Ohr für mancherlei musikalische Effekte, die sich nach heutigen Auffassungen auch sehr gut mit tonalen Mitteln realisieren lassen. In der Tat: es wird nicht ‚plink-ploink' gesungen; das musikalische Parlando-Idiom findet sein Fundament in Brittens ‚speech-song'. Was die Orchestrierung betrifft entwirft Kox eine ganz eigene Klangwelt, die sich per Szene wie ein Handschuh daran anpasst. Es ist in seinen ausgesprochen individuellen musikalischen Szenen ein vor allen Dingen musikalisch 'spannendes' Werk. Nicht so sehr durch die große Gebärde, sondern durch die reichschattierten Einzelheiten. Es ist ein Konversationsstück mit abwechselnd 'schöner' und funktioneller Musik, fortwährend gibt es irgend etwas zu genießen. Das war 1974 nicht mehr erlaubt, heute finden wir das aber vor allem nach alter Gewohnheit wieder normal angenehm. Der Inhalt ist aber schon so ausführlich besprochen worden, dass ich diesen hier nicht noch einmal wiederhole. Auffallend ist vor allen Dingen, dass Kox die damals wohl aufgeführte 'Opiumszene' strich, weil er rückblickend fand, dass sie nicht mehr passte, genau wie der Regisseur Hamilton ihm in diesen Jahren vorgehalten hatte. Kox:
'Dass Leute sich in Drogen ertrinken, das konnte ich musikalisch nicht gut in den Griff bekommen. Ich bin in meinem Leben schon mal betrunken gewesen, aber nicht unter dem Einfluss von Drogen, obgleich es die Zeit dafür war. Es fügte meinem Leben nach meinem Gefühl nichts zu'
Schade, denn die Szene weist doch einige farbenreiche Momente auf, wie die zwei soundbits, wie man sie in zwei kleinen musikalischen Fragmenten, die wir in die Sinopsis aufgenommen haben, hören kann.
Het Parool 2012
Was CD-Rezensionen betrifft, nahm Erik Voermans in Het Parool die Spitze. Er kam zu dem Schluss, dass dieses einst geschmähte Werk rückblickend nichts weniger als ein Misserfolg war:
„Wäre Dorian Gray wirklich ein derartig Missgestaltetes Scheusal gewesen, wie Volkskrant und NRC suggerierten, so hätte De Roo keine Lust gehabt, die Finger zum zweiten, geschweige denn zum dritten Male daran zu brennen. Und – ordnungshalber - : in anderen Zeitungen und Zeitschriften wurde viel milder geurteilt."
Erik Voermans, Het Parool, 31 oktober 2012
Über die Oper selbst schrieb Voermans:
'Kox lässt die Oper mit einer Bartokartig geladenen, ominösen Unisonomelodie anfangen, die noch in vielen Verkleidungen zurückkehren wird. Ganz am Schluss, als Gray mit einem Messer in der Brust zur Erde gestürzt ist, erklingen kraftvolle beschädigte Durakkorde. Wenn man das mit etwas augenscheinlich so Einfachem kann, so hat man was auf dem Kasten. Zwischen dem Eröffnungsunisono und den Schlussdreiklängen schreibt Kox, um Wildes Text voll Bonmots und philosofische Sptzfindigkeiten völligen Raum zu bieten, mit zurückhaltender dramatischer Musik ganz in grundtönigem Idiom fast überall ein hohes Tempo vor.'
Erik Voermans, Het Parool, 31 oktober 2012
De Volkskrant 2012
De Volkskant konnte nach der Rezension in Het Parool die CD-Ausgabe nicht negieren, und es folgte eine fast andwerthalb Seiten große Rezension. Wo Roland de Beer einige Jahre vorher nochüber Kox' Paranoia höhnte, erkannte Fits van der Waa jetzt, dass in de negativen Beurteilung der Dorian Gray im Jahre 1974 doch etwas mehr als nur das Werk gespielt haben muss:
'Ein hoher Baum fängt viel Wind'. Das muss wenigsten dahiner gesteckt haben.'
Van der Wa erkennt sogar, dass Hmiltons Regie rückblickend in der provinziellen niederländischen Opernlandschaft jener Tage gar nicht so schlecht war. Wir haben dann achtzig Pozent von seinem Artikel gelesen, und sind nach Skizze der Vorgeschichte endlich bei der Aufführung der Oper angelangt: Gewaltig gute Darstellung der Solisten mit einem etwas piepsigen Radio Kamerorkest:
'Wie schön wäre es gewesen, zu konstatieren, dass es sich hier um ein unberechtichterweise geschmähtes Meisterwerk handelt. Das ist es leider nicht. Wildes Dialoge, die von wisecracks und Bonmots an einander hängen, bleiben oft kurzatmig, und die musikalischen Einfälle, womit Kox sie unterstützt, kommen nicht immer zu einer befriedigende Entwicklung. Die besseren Momente würden in einem Horrorfilm bestimmt ihre Auswirkung haben, und die besten, wie der Mord am Maler des Porträts, sind bestimmt nicht ohne bildende Kraft.'
Frits van der Waa, De Volkskrant, 12 december 2012
Als Zwischenschlagzeile ist dann der Satz "Wie schön wäre es gewesen, zu konstatieren, dass es sich hier um ein unberechtigterweise geschmähtes Meisterwerk handelt" herausgenommen. Mit dem Titel der Rezension, 'Kleines Bild der Dorian Gray' macht der Kopfjäger der Volkskrant im Hinblick auf die Vorgeschichte und den dieser Rezension in der Zeitung bemessenen Raum, leicht lächerlich.
Ein Meisterwerk?
'Leider kein Meisterwerk', so urteilt Frits van der Waa also. Aber was ist das, ein 'Meisterwerk'? Ein Werk, das sich z.B. mit Carmen, Tristan und Isolde, Tosca, Peter Grimes, Le gran macabre oder St.François d'Assise messen kann? Die Dorian Gray ist ein transparantes Werk mit einem – innerhalb der Gattung der literarischen Oper – wirkungsvollen Libretto. De Volkskant schiebt Wilde danach 'wisecracks' in die Schuhe, Het Parool spricht dort von 'philosofischen Spitzfindigkeiten'. Letzteres ist Wildes Jargon bestimmt nicht, es sind mit Sicherheit 'wise cracks' Die Dorian Gray ist auch keine Tosca, das steht fest. Wir beurteilen 2013 das Theater ganz anders als im Jahre 1900. 'Aktion' bestimmt nicht mehr allein das Operntheater. Die Dorian Gray ist vor allen Dingen keine typisch 'niederländische Oper'. Die internationalen Prätentionen sind so überaus deutlich, dass man Heg und Reichenfeld in ihrer aggressiven Tonsetzung fast von dieser Erkenntnis aus begreifen möchte. Ich möchte Van der Waa fragen, ob er denn stärkere niederländische Opern aus der Nachkriegszeit kenne. Man könnte über die ikonische Stellung eines Louis Andriessen streiten, okay. Die Bedeutung der Oper Reconstructie kann auch nicht geleugnet werden. Glücklicherweise muss ein Mensch nicht immer wählen." Für mich steht die Dorian Gray mit diesen Werken auf einer Linie. In seiner breiten Orientierung (und im tonalen Charakter) schließt sie sich nahtlos den Opern heutiger englischer und amerikanischer Komponisten wie Mark Anthony Turnage an. Erik Voermans erinnert in diesem Zusammenhang in Het Parool schliesslich noch kurz an Reichenfelds Schlagzeile in der NRC vom Jahre 1974: 'Gähnenerregende künstlerische Unmacht.' Voermans: 'Eine absurde Behauptung'.
Filmisch
In der niederländischen Opernlandschaft ist die Dorian Gray schon längst nicht mehr die einzige für den durchschnittlichen Liebhaber 'genießbare' Oper. Es ist aber eine der ganz wenigen niederländischen Opern, die von der Orchestereinleitung bis zur Schlussnote sinnvoll ist. Die Musik ist geschichtet, und das Orchester ist wie ein psychologischer Spiegel für die kernigen Dialoge, in denen sich die dramatische Geschichte von Dorian Grays artistischem Leben wie ein introspektiver thriller abspielt. Kox: 'Filmisch, das wurde mir dann wieder, als ich packende Musik schrieb, vorgeworfen...'
Zukunftmusik
Jetzt, wo die meistgeschmähte Oper, die hier nach dem Krieg aufgeführt wurde, die Dorian Gray, es mit der schönen CD-Ausgabe zu einem unerwarteten happy end gebracht hat, speche ich vor allem den Wunsch aus, dass das Holland Festival sich beeilen möge, die Aufführung der Oper Das grüne Gesicht auszuführen. Es würde das Festival hinsichtlich dieser Vorgeschichte nur zieren, und mit dem unerwarteten Beifall für die Dorian Gray-Ausgabe würde es ungezweifelt phantastische Publizität liefern.
RS.
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Sources & ©
All photographic materials © 2013 401NederlandseOperas.nl/Attacca-Annelies van der Vegt/De Nederlandse Opera/Charles Hamilton/Hans Kox/René Seghers
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All videos © 2013 401NederlandseOperas.nl/De Nederlandse Opera /Charles Hamilton/Hans Kox/René Seghers
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All audio samples © 2013 Attacca/De Nederlandse Opera/Hans Kox
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Special thanks to Ger van den Beuken/MCN, Oscar Enklaar/Attacca, Michiel Jongejan/DNO, Hans Kox, Hélène Kox, Judith Kox, Bas van Putten, Annelies van der Vegt/Attacca, Sieuwert Verster/Attacca
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Articles and reviews quoted from De Volkskrant (Hans Heg, Charles Fabius, Roland de Beer, Frits van der Waa), De Telegraaf (Mia Aleven-Vranken), Het Parool (Eric Voermans), NRC (Hans Reichenfeld, Hans Tecker), Ons Erfdeel (Ernst Vermeulen), Uitkrant van Amsterdam
Jos Kunst: 'Noten kraken'
Leo Samama: 'Het algemene onbehagen in de cultuur in de jaren zestig' (LeoSamama.nl)
Bas van Putten: 'Hoog Spel – Het levensverhaal van Hans Kox' (2005, Uitgeverij Contact)
Bas van Putten: 'Hans Kox – Dorian Gray' (2012, Attacca/artikel in het tekstboek van de CD release Attacca 2012.130.131)
Charles Hamilton: 'The Picture of Dorian Gray' (1974, introduction to the opera)
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Interviews with Hans & Hélène Kox (20121124, Haarlem/filmed) and Charles Hamilton (20121219/Telephone)
< Hans Kox: Dorian Gray (1974) - Part II (DE) |
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